ELFTER SEPTEMBER

Als in den Morgenstunden des elften September die Flugzeuge gekommen waren und dann aus dem grossen Gebäude Rauch aufstieg, als die Überlebenden auf die Strasse flohen und sich die Informationen im zusammenbrechenden Kommunikationssystem der Stadt, einander widersprechend, überschlugen, wurde nach und nach klar, dass nach diesem Tag nichts mehr so sein würde, wie es zuvor gewesen war. Chile.

Der Luftangriff auf die La Moneda und auf Stadtviertel Santiago de Chiles bedeutete am Morgen des elften September die Machtübernahme des illoyalen Arschlochs Augusto Pinochet und beendete das Leben des gewählten Präsidenten Chiles, Salvador Allende. Nach Stunden des heftigen militärischen Widerstands gegen den faschistischen Putsch durch seine letzten Vertrauten im Präsidentenpalast, und nach einer allerletzten – von einer der wenigen noch sendefähigen Stationen übertragenen – Radioansprache an das Volk Chiles, – (unten gibt es den Soundtrack zum Artikel) – schickte Salvador Allende, im Glauben, dadurch ihr Leben zu retten, seine verbliebenen Verteidiger hinaus auf die Strasse zu ihren Häschern. Allende selbst wurde später erschossen in den Ruinen der Moneda aufgefunden, die Umstände seines Todes sind nie endgültig geklärt worden.

Als sich schliesslich der Tag heute vor 35 Jahren seinem Ende entgegenquälte, war die kurze, aber hoffnungsvolle Geschichte der Unidad Popular in Chile beendet. Schon in den nächsten Tagen waren tausende Chilenen verhaftet, getötet oder auf der Flucht, darunter viele der wichtigsten Künstler und Intellektuellen des Landes. Unter ihnen auch Victor Jara, der wie 5.000 andere, noch am gleichen Tag im Stadion Santiago de Chiles interniert wurde. Die Folterer brachen ihm zunächst beide Hände, damit er nicht mehr Gitarre spielen konnte und ermordeten ihn schliesslich innerhalb der ersten Woche nach dem konterrevolutionären Putsch.

Weniger als ein Jahr danach hatte sich die Junta mit Folterungen und Mord, weltweiten Protesten zum Trotz, jedoch unter dem Beifall vieler westlichen Regierungen, in Chile fest etabliert, während zehntausende Chilenen ausser Landes flohen. Alleine die DDR rettete 2.000 Opfer der Reaktion vor Verfolgung und Vernichtung. Auch in der, noch von Willy Brandt regierten, Bundesrepublik waren mehrere tausend von ihnen untergekommen und mit ihnen die Erfahrungen eines neuen Faschismus. Sie erlebten mit, wie, wenige Monate nach dem Putsch, eine chilenische Mannschaft – die sich nur hatte qualifizieren können, weil die sowjetische Sbornaja sich weigerte, nach dem Morden, das im zum KZ gewordenen Nationalstadion Santiagos stattgefunden hatte, dort anzutreten, obwohl die FIFA den blutgetränkten Boden für bespielbar hielt – bei der WM in Deutschland unter ihren Protesten und Aktionen von Demonstranten ein Vorrundenspiel gegen die BRD mit 0:1 verlor, sie setzten, wo es möglich war, ihre Arbeit in der DDR oder der BRD fort, sie besuchten die Universitäten und sie engagierten sich im Kulturleben ihrer Gastländer. Auch an unserer Schule tauchten neue Mitschüler auf, deren Eltern ihr Heimatland eben noch hatten verlassen können. Die Begegnung mit ihnen war für uns junge Schüler das erste Aufeinandertreffen mit Flüchtlingen, die um die halbe Welt geflohen waren, um Tod oder Folter zu entgehen und für manche war es der erste Kontakt zu ausländischen Jugendlichen überhaupt. Durch die Bekanntschaft zu ihnen begannen einige erstmals, sich näher für die Hintergründe der Flucht zu interessieren. Das, was sie erfuhren, löste Verstörung, Empörung und Mitgefühl aus – die Opfer der brutalen Gewalt bekamen ein Gesicht. Das unserer Mitschüler.

Doch das betraf nicht nur uns jugendliche Schüler. Ganz im Gegensatz zu verschiedenen Politikern der BRD, die, wie Franz-Josef Strauss, der Ansicht waren, dass “angesichts des Chaos, das in Chile geherrscht hat, (…) das Wort Ordnung für die Chilenen plötzlich wieder einen süßen Klang (erhält)“, reagierte die – noch von den politischen Diskussionen der späten sechziger Jahre beeinflusste – Gesellschaft der BRD mehrheitlich betroffen und oft sogar solidarisch mit den nach Deutschland Geflohenen. In der BRD entstand die erste Solidaritätsbewegung mit einem Land, das häufig dem Trikont zugerechnet wurde, was angesichts des hohen Industrialisierungsstands Chiles eigentlich ungenau war.

Diese – heute fast nicht mehr denkbare – breite Reaktion auf einen faschistischen Putsch am anderen Ende der Welt, die oft zwischen Hilflosigkeit, Trauer und Wut schwankte, hatte einen ihrer Ausgangspunkte im Erkennen der Tatsache, dass der Kapitalismus eine systemimmanente echte Veränderung niemals zulassen würde – allen, einer friedlichen und demokratischen Lösung zuliebe, eingegangenen Kompromissen zum Trotz, und im offenen Widerspruch zur demokratischen Maskierung, mit der die imperialistischen U.S.-amerikanischen und europäischen Interessen damals wie heute getarnt werden. Der 1968, durch Panzer des Warschauer Vertrags, und unter grosser Anteilnahme der westdeutschen Öffentlichkeit, beendete “Prager Frühling” in der realsozialistischen CSSR war erst fünf Jahre vorbei – da soff die wohlige Illusion, dass systemverändernde Entwicklungen im “freien Westen” anders verlaufen würden, in chilenischen Blutlachen von CIA und Pinochet endgültig ab. Und mit ihr die Zuversicht, auf den, vom Kapitalismus angebotenen Wegen wirkliche Veränderungen erreichen zu können. Für diese verlorene Illusion der Linken hatten die chilenischen Anhänger der Unidad Popular einen hohen Blutzoll zahlen müssen.

Und wie um chilenische Erfahrungen nachzuvollziehen, zerbrach an dieser Erkenntnis im weiteren Verlauf der Geschichte auch eine bis dahin noch bestehende Aktionseinheit fortschrittlicher Gruppen in den meisten der westlichen Länder. In den Jahren nach dem in Chile geführten Krieg gegen das Volk verstärkten bewaffnete Gruppen weltweit ihren Kampf gegen Imperialismus und Kapital; auch mit dem Ziel, dass die bittere Erfahrung der chilenischen Revolution nicht umsonst gewesen sein sollte. Andere, die vor notwendigen Konsequenzen zurückschreckten, begannen stattdessen, sich auf rein reformistische gesellschaftliche Teilaspekte zu beschränken, und sich aus Systemfragen zunehmend zurückzuziehen. Ein Weg, der später in einer ängstlich-pazifistischen Friedensbewegung und in der Gründung einer staatstragenden Umweltpartei münden sollte. Wurden diese vom System nach und nach absorbiert, so wurden jene im Verlauf ihres zunehmend verzweifelter werdenden Kampfes durch Counter-Strategien und Repression, aber auch durch eigene strategische Fehleinschätzungen beinahe vollständig aufgerieben, getötet oder verhaftet. Viele sitzen noch heute in den Knästen. Der weltweite Aufbruch der frühen siebziger Jahre kam zum Erliegen.

Ohne den elften September 1973 wäre die Entwicklung der Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen System zweifellos anders verlaufen. An diesem Tag vor 35 Jahren jedoch landete die CIA, und mit ihr das Kapital, einen grossen Coup gegen alle aktuellen und zukünftigen Bestrebungen, den Kapitalismus zu überwinden.

Eine geglückte, friedliche revolutionäre Veränderung Chiles, hätte zu einem Zeitpunkt, an dem das kapitalistische System weltweit unter Druck geraten war – im gleichen Jahr erst hatten die U.S.A. aufgrund einer sich zuspitzenden wirtschaftlichen Krise den Krieg in Vietnam endgültig verloren gegeben – eine positive Dynamik entfalten können. Eine erfolgreiche und demokratisch herbeigeführte Transformation eines – im Verhältnis – gut entwickelten Industrielandes zu einem sozialistischen Modell hätte nicht nur in Süd- und Mittelamerika ein Leitbild für progressive, linke, in einem breiten Bündnis agierende, gewerkschaftliche und politische Bewegungen sein können – die Begeisterung und die Aufbruchsstimmung, die die Unidad Popular auf den Strassen und Plätzen Chiles auslöste, war höchst ansteckend. Diese Ansteckungsgefahr war akut, und äusserte sich in einer Form, die sich auch heute noch, beispielsweise durch einige hervorragende Dokumentarfilme wie die von Patricio Guzmán, auf Betrachter überträgt.

Die faschistische Niederschlagung der chilenischen Revolution hingegen ist einer der entscheidenden Wendepunkte für die spätere weltweite Niederlage emanzipatorischer Bewegungen gewesen. Jener dynamische Prozess, der positiv denkbar gewesen wäre, lief nun in gegensätzlicher Richtung ab.

Die Niederlage der chilenischen Revolution war auch der Beginn einer durchgeprügelten neoliberalen Wirtschaftsordnung. Deren, durch die Junta erstmals weitgehend etablierten Glaubenssätze – die in Chile zunächst als Korrekturen “sozialistischer Experimente” dargestellt wurden – bilden mittlerweile weltweit die Basis einer Politik zulasten der Armen und zugunsten der Besitzenden. Der Angriff auf staatliche Sozialversicherungssysteme etwa, wurde erstmals in Chile geprobt, als die Junta die chilenische Sozialversicherung, die die älteste ausserhalb Europas gewesen war, zur Disposition stellte. Und auch für eine antigewerkschaftliche Politik, wie sie am Ende des Jahrzehnts von Margret Thatcher in England betrieben werden sollte, hatte man im faschistischen Chile Pinochets zuvor ein willkommenes Experimentierfeld gefunden.

Nach dem elften September 1973 ist also tatsächlich nichts mehr so gewesen, wie zuvor. Der Tag war der Anfang eines Endes, dessen ganze Wirkung erst mit der Zeit eintrat.

Angesichts der Emotionsinszenierungen, die sich mit einem ganz anderen, ebenfalls an einem elften September stattgefundenen, Ereignis beschäftigen und heute ganztags aus den Medien schwappend, unsere Hirne verkleistern sollen, soll hier deshalb an den elften September vor 35 Jahren erinnert werden, ohne den auch Nine-Eleven möglicherweise nur ein ganz gewöhnlicher Werktag geblieben wäre.

Es soll eine Erinnerung sein an ein Datum, das tausende Menschen ihr Leben kostete und den weiteren Verlauf des revolutionären Kampfes massgeblich bestimmte. Ein Datum, das noch heute traurig macht, wenn man z.B. in Patricio Guzmáns Dokumentation über seinen dreiteiligen Film “Die Schlacht um Chile”, in die Gesichter jener Passanten im heutigen Santiago de Chile blickt, die zunächst staunend, und dann mit Tränen in den Augen den Marsch einer jungen Studentenkapelle verfolgen, die mitten in Santiago jahrzehntelang verbotene Hymnen der Unidad Popular spielt, und in denen sich die zaghafte und wehmütige Erinnerung an eine Zeit des verlorenen Aufbruchs widerspiegelt.

Ein Datum auch, das wieder die Perspektive auf Entwicklungen in Lateinamerika richtet, z.B. nach Venezuela oder Bolivien, bei der man erkennen muss, wie manche Abläufe sich zu wiederholen scheinen. Die Strategien, die sich heute gegen Hugo Chávez oder Evo Morales richten, ähneln in weiten Teilen jener Kampagne gegen Salvador Allende, die den Putsch der Militärs vorbereiten sollte. Doch nichts ist entschieden. Noch kann Geschichte diesmal anders ausgehen und noch scheint es, als könnte Savador Allende mit seiner letzten Rede doch Recht behalten: In diesen düsteren und bitteren Augenblicken, in denen sich der Verrat durchsetzt, sollt ihr wissen, dass sich früher oder später, sehr bald, erneut die großen Straßen auftun werden, auf denen der würdige Mensch dem Aufbau einer besseren Gesellschaft entgegengeht.*

¡ El Pueblo Unido Jamás Será Vencido !

Einige weiterführende Links zum Thema:
Der Wikipedia-Eintrag zum Putsch am 11.09.1973
Ausführliches Dossier der Frankfurter Rundschau zum Thema
Chronik der Ereignisse von Matthias Mann
Umfassende Linksammlung zu Interviews, Gesprächen und Dokumenten
Google-Video: Die Schlacht um Chile, Teil 1 von Patricio Guzmán (span./96 Min.)
Google-Video: Die Schlacht um Chile, Teil 2 von Patricio Guzmán (span./86 Min.)

+++ Der Soundtrack zum Artikel 1970 – 1973 – 1983 +++

1. 1970 – Hoffnung
“El pueblo Unido Jamás Será Vencido”, unbekannte Interpreten. Die Aufnahme wurde bei einer Unidad Popular Wahlveranstaltung zur Präsidentschaftswahl 1970 angefertigt.

2. 1973 – Trauer
Die letzte Rede von Salvador Allende am Vormittag des 11.09.1973, an seinem Schreibtisch stehend über Telefon gehalten und von Radio Magallanes übertragen. Zu hören sind auch Excerpts zweier Variationen von “The People United Will Never Be Defeated” von Frederic Rzewski, der die insgesamt 37 Klavier-Variationen der Unidad Popular-Hymne 1975 komponierte, sowie ein Clip von “Venceremos” in der Interpretation des Chors der Roten Armee.

3. 1983 – Trotz
“El pueblo Unido Jamás Será Vencido” von Quilapayún. Die Aufnahme entstand bei einer Solidaritätsveranstaltung am zehnjährigen Jahrestag des faschistischen Putsches in Argentinien.

 

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Publiziert: September 11th, 2008
Rubrik: lüge und wahn
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